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100 Jahre Geriatrie in Klagenfurt
„Eigentlich geht die Geschichte meiner Abteilung zurück bis ins Jahre 1896, als das LKH Klagenfurt am 29. August eröffnet wurde. Damals wurden die Landeswohltätigkeitsanstalten neu gebaut und eröffnet. Dazu gehörten das LKH Klagenfurt, das Irrensiechenhaus, das Kinderspital, das Landeskrankenheim, die Taubstummen- und Blindenanstalt, das Männerblindenheim und das Landessiechenhaus. In letzterem wurden nicht nur ältere Menschen, sondern auch schwer beeinträchtigte und neurologische sowie psychiatrische Patienten untergebracht“, erzählt Prim. Dr. Georg Pinter mit Blick auf das original erhaltene „Siechenstandbuch“, in dem die betreuten Patienten zwischen 1879 und 1925 vermerkt wurden.
Was auffällt: Das Alter der Patienten. Kinder mit schweren Behinderungen wurden ebenso aufgenommen wie ältere Männer und Frauen. Vor 100 Jahren wies ein 78-jähriger Patient ein fast schon biblisches Alter für seine Zeit auf. Denn durchschnittliche Lebenserwartung lag damals noch unter 50 Jahren.
Die Diagnosen klingen zum Teil skurril. „Die Ärzte diagnostizierten Idiotie oder Altersblödsinn“, sagt Pinter. Sehr oft litten die Menschen an Epilepsie. Pinter: „Zur damaligen Zeit konnte diese Krankheit noch nicht behandelt werden und konnte schwere Folgeschäden nach sich ziehen. Aus heutiger Sicht könnten wir den Betroffenen helfen, Epilepsie ist inzwischen sehr gut behandelbar“.
Basisversorgung in den Anfängen
„Damals konnte vielen Menschen, vor allem älteren, nicht geholfen werden. Die Unterbringung auf der heutigen Geriatrie war eher eine Basisversorgung. Die Patienten bekamen ein Bett, einen Sessel und Essen. Das darf aber nicht gering geschätzt werden, denn international gesehen war das höchstes Niveau. Finanziert wurde diese Versorgung teilweise auch über Stiftungen“, berichtet Prim. Dr. Pinter.
1913 wurde am jetzigen Standort das Landessiechenhaus neu gebaut.
Deportationen und Ermordungen in der NS-Zeit
Über die Zwischenkriegszeit ist indessen sehr wenig bekannt, dafür gibt es genauere Unterlagen über die traurige Zeit während des Nationalsozialismus. Am Gelände des heutigen Hauses der Geriatrie und der psychiatrischen Abteilung wurden bis 1945 zwischen 700 und 900 Patienten ermordet. Unter der Leitung des damaligen Primarius der Männerabteilung der Landesirrenanstalt, Dr. Franz Niedermoser, und unter Mithilfe der Oberschwester Antonie Pachner, der Oberpflegerin Ottilie Schellander des Landessiechenhauses, sowie noch weiteren Pflegern und Pflegerinnen, wurden sehr vielen Patienten tödliche Dosen Beruhigungsmittel verabreicht. Zudem fanden vier Todestransporte nach Hartheim (OÖ) in den Jahren 1940 – 1941 statt, durch welche 733 Menschen (davon 25 Kinder) ins Gas geschickt wurden.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Niedermoser und drei Mitglieder des Pflegepersonals zum Tode und weitere fünf Personen des Pflegepersonals zu 10 – 15 Jahren Haft verurteilt. Das temporäre Mahnmal am Friedhof Annabichl, ein Denkmal im Park der Abteilung für Psychiatrie und eine Gedenkstätte am Gelände der Geriatrie erinnern an diese unbeschreiblichen Gräueltaten.
Die Nachkriegszeit
Bis 1962 wurde die heutige geriatrische Abteilung von der 1. Med. mitbetreut. Menschen mit geriatrischen Problemen wurden ebenso betreut wie minderbegabte und beeinträchtigte Patienten oder Menschen mit chronischen und neurologischen Krankheiten. „Auch Palliativpatienten fand man hier“, berichtet Pinter.
1962 – Medizin wird gezielter
Einen Quantensprung gab es schließlich 1962 unter Primarius Dr. Karl Janeschitz. Er begann, Medizin gezielt anzuwenden. Das Haus der Geriatrie erhielt den Namen „Landespflegeheim“. Diese Entwicklung läuft parallel zur Gründung der Geriatriegesellschaft in Österreich, die im Jahre 1955 von Univ.-Prof. Dr. Walter Doberauer gegründet wurde. „Das waren damals Meilensteine“, weiß Pinter.
Akutgeriatrie in den 1990er Jahren
Ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt erfolgte in den 1980iger Jahren unter Prim. Dr. Rudolf Hebein mit der Gründung der Langzeitabteilung, einer Einrichtung, die sich gezielt mit Rehabilitation und Wiedereingliederung von älteren und chronisch kranken Patienten befasste. Schließlich erfolgte 1991 die Einführung der Akutgeriatrie in Klagenfurt unter Prim. Dr. Hans Wieltschnig.
1994 erfolgte der Abriss des „Hinterhauses“ und mit dem Neubau der geriatrischen Tagesklinik (diese ist mit 20 Betreuungsplätzen die größte in Österreich) und der Klassestation im Süden des Altbestandes wurde ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des Hauses der Geriatrie gesetzt. Weiteres wurden die akutgeriatrischen Stationen G1 und G2 neu renoviert. Pinter: „Auch dieser Schritt in der Geschichte war verbunden mit bundesweiten Entwicklungen. Univ.-Prof. Dr. Franz Böhmer, von 1995 bis 2007 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie, etablierte die Geriatrie zunehmend als Zusatzfach für die Fächer Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie, physikalische Medizin und Allgemeinmedizin. Zusätzlich wurden verstärkt Ausbildungen für Geriater national und international forciert und etabliert.
Das Haus der Geriatrie wurde in weiterer Folge 2005 und 2009 im Bereich der vier Stationen der Abteilung für chronisch Kranke neu renoviert.
Geriatrie in der Gegenwart
Heute hat sich die Geriatrie zu einem wichtigen Partner für andere Fachdisziplinen entwickelt. „Wir arbeiten sehr eng mit vielen Abteilungen des Klinikums (Notfallmedizin, Unfallchirurgie, Neurologie, Psychiatrie etc.) zusammen“, erzählt Pinter aus dem Alltag.
Die häufigsten Krankheitsbilder seiner Patienten, die im Schnitt 85 Jahre alt sind, sind chronische Herzschwäche, chronische und akute Lungenerkrankungen, kognitive Störungen, Inkontinenz, chronischer Schmerz, Folgen von Frakturen und vor allem Gebrechlichkeit (Frailty). Frailty beschreibt einen vorwiegend in der Geriatrie auftretenden Symptomenkomplex, der sich wie folgt zusammensetzt: unfreiwilliger Gewichtsverlust, Muskelschwäche, subjektive Erschöpfung, Immobilität, Instabilität und herabgesetzte körperliche Aktivität.
Wichtigstes Ziel der modernen Geriatrie: Die Erhaltung oder Rückgewinnung von Funktionalität und Lebensqualität. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wieder: Rund 75 Prozent der Patienten werden schon nach einigen Tagen (10-14) wieder von der Akutgeriatrie nach Hause entlassen.
„Das Haus der Geriatrie besteht heute aus der Akutgeriatrie/Remobilisation (3 Stationen – 76 Betten), der geriatrischen Tagesklinik (20 Behandlungsplätze) und der Abteilung für chronisch Kranke (120 Betten). Etwa 1400 Patienten werden jährlich an der Akutgeriatrie behandelt, 300 an der Tagesklinik und an der Abteilung für chronisch Kranke wurden 2013 40.000 Pflegetage gezählt“, erklärt der Medizinische Direktor des Klinikum Klagenfurt am Wörthersee, Dr. Hartwig Pogatschnigg.
Herausforderungen für die Zukunft
„Wir befinden uns in einer Phase des demografischen Überganges zu einer alten Gesellschaft. Die Menschen werden immer älter. Das ist wohl eine der gravierendsten Veränderungen in den letzten 100 Jahren“, so Primarius Pinter. 1910 waren 400.000 Menschen älter als 65 Jahre (6% der Bevölkerung), 2015 wird diese Zahl auf 1,57 Millionen Menschen (18% der Bevölkerung) ansteigen, 2025 werden es 1,8 Mio. Menschen (21%) und 2050 2,47 Mio. (27%) sein.
„Die demografische Entwicklung wird eine sehr große sozialpolitische Herausforderung werden“, weiß der Primarius. Aber auch für die Medizin und die Pflege gibt es Fragen zu klären. So sollen Behandlungen gezielter eingesetzt werden. „Im Wesentlichen kann man sagen, dass sich durch das höhere Alter der Bevölkerung, die gesamte Medizin geriatrisieren und gleichzeitig individualisieren wird“, blickt Pinter in die Zukunft. So wird es etwa eine Alterstraumatologie oder eine Alterschirurgie geben. Die Entwicklung ist heute schon spürbar und wird im Klinikum Klagenfurt a. W. auch schon gelebt. „Allein die Patienten, die in der Aufnahme und Beobachtungsstation (ABS) an der Zentralen Notfallaufnahme (ZNA) betreut werden, sind jetzt schon zu 30 Prozent über 80 Jahre alt.“
„Diese Entwicklung ist auch für die Pflege von enormer Bedeutung“, sagt Pflegedirektor Bernhard Rauter. Und weiter: „Vor allem beim alten Menschen sind die Mitarbeiter der Pflege gefordert Schwerpunkte zu setzen. Das ist uns bisher gut gelungen und muss weiter intensiviert werden.“
Um ältere Menschen bestmöglich zu betreuen initiierte Prim. Pinter gemeinsam mit Univ. Prof. Dr. Rudolf Likar, Univ. Prof. Dr. Herbert Janig, Mag. Dr. Olivia Kada und Mag. Dr. Karl Cernic das Projekt „Gut versorgt im Pflegeheim“, das von der Politik unterstützt und aus Mitteln des Kärntner Gesundheitsfonds finanziert wird. „Mit diesem Projekt können wir einen doppelten Mehrwert erzielen, denn einerseits steigt die Lebensqualität der Pflegeheimbewohnerinnen und –bewohner, weil belastende Fahrten ins Krankenhaus auf das notwendige Maß reduziert werden können. Andererseits erreichen wir so natürlich auch eine Entlastung der Ambulanzen indem nicht für eine Spitalsambulanz indizierte Behandlungen direkt im Pflegeheim durchgeführt werden können“, betont Kärntens Gesundheits- und Krankenanstaltenreferentin LHStv.in Dr.in Beate Prettner. Dem Aufgabenbereich der Geriatrie komme angesichts der demographischen Entwicklung eine immer größere Bedeutung zu. „Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden im Bundeszielsteuerungsvertrag der Gesundheitsreform bundeseinheitliche Qualitätsstandards für die geriatrische Versorgung festgelegt, wobei Kärnten hier bereits jetzt eine absolute Vorbildrolle einnimmt“, betont Prettner.
Beste Spitalsabteilung Österreichs
Daneben ist es Prim. Dr. Pinter ein Anliegen, das negative Altersbild und die Vorurteile gegen alte Menschen abzubauen. „Man sollte das Alter als Chance sehen“, betont er. Außerdem will der Primarius das Image der Geriater verbessern. „Uns stehen zwar kaum hochmoderne Techniken wie anderen Disziplinen zur Verfügung stattdessen wird bei uns Teamwork groß geschrieben“, so Pinter. Die wesentliche „Technologie“ der Geriatrie ist das geriatrische Assessment, ein interdisziplinärer und multidimensionaler Prozess zur Erfassung der funktionellen Defizite und auch der Ressourcen des Patienten mit dem Ziel des Erstellens eines individuellen Therapieplanes.
Der Erfolg gibt ihm recht: Nicht umsonst wurde das Haus der Geriatrie 2010 von der Fachzeitschrift CliniCum zur besten Spitalsabteilung Österreichs gewählt.
Zahlen und Fakten:
Der Begriff „Geriatrie“ wurde 1904 von dem Wiener Univ.-Prof. Dr. Ignatz Nascher geprägt. Geriatrie leitet sich von den griechischen Wörtern „geros“ und „iatria“ ab, und bedeutet Altersmedizin bzw. Altersheilkunde.
Vergleicht man die heutige Situation älterer Menschen ab 65 mit jenen vor 100 Jahren, lässt sich erkennen, dass 80-Jährige heute zumeist fitter sind als damals 50-Jährige. Dies hängt unter anderem mit der Verbesserung von Hygieneverhältnissen, der Ernährung, sozioökonomische Faktoren und der Entwicklung in der Medizin zusammen.
Besonders zunehmen wird in naher Zukunft die Zahl hochbetagter Menschen:
Lebten 1910 in Österreich 10.201 Menschen über 85 Jahren (0,2%), so werden es 2015 206.000 (2,4%) sein, 2025 steigt diese Zahl auf 250.000 (2,9%) Menschen und 2050 werden in Österreich 527.000 (5,9%) über 85-Jährige leben.
Bemerkenswert ist der Blick auf Menschen, welche über 95 Jahre alt sind: 1910 waren es in ganz Österreich 221 Menschen, 2010 waren es bereits knappe 10.000, 2025 werden es 17.000 sein und im Jahr 2050 geht man von 41.000 Menschen in dieser Altersgruppe aus.